Gezeiten

Dokumentar-Essay, Schweiz 1999, 20 Minuten

Ein filmischer Brief über Stationen eines langen Abschieds, über heftig durchlebte Trauer, die viele Jahre nach dem frühen Tod meiner Mutter ausbrach.

Inhalt

Ich habe in den letzten fünfzehn Jahren, neben meinen längeren Dokumentarfilmen, auch „inoffizielle“ Aufnahmen gedreht - impressive Bildnotizen wie eine Art Tagebuch. Daraus ist ein Film entstanden, der etwas beschreibt, worüber ich normalerweise nur mit nahen Freunden spreche.

Ich war noch sehr klein, als meine Mutter an einer schweren Krankheit starb. Viele Jahre später brach in mir unvermittelt eine heftige Trauer aus. Für lange Zeit schleppte ich dieses Gefühl mit mir herum.

Wie ein „offener“ Brief erzählt der Film über Orte der persönlichen Erinnerung - über den Friedhof am See, die Stadt Zürich... und über Reisen nach Südspanien und Marokko auf der Suche nach Distanz. Ein filmischer Essay über vergangene Stimmungen und Zeiten, über Stationen eines langen Abschieds.

Zitate

In den Ferien auf einer wunderschönen Alp, frisch verliebt, eigentlich glücklich... Doch innerlich schien alles still zu stehen. Wie wenn ich gleichzeitig in zwei Welten lebte.

Die Erinnerung an meine Mutter wie weggewischt... Aussen Sturm, innen Gefühlssplitter, die nicht haften bleiben... Kein Gefühl von Zeit...

Was nützte mir mein Kopf, mein Intellekt, als mich Trauergefühle überschwemmten!

Ich entwickelte eine Art Friedhof-Identität... Ruhe vor der geschäftigen Alltäglichkeit des Draussens.

Das plötzlich ausbrechende Gewitter war eine Wohltat. Der Regen weichte auf, tat gut, Haarsträhnen im Gesicht, überall tropfte es... Ein Glücksgefühl!

Gedanken des Autors

Entstehung der Idee

Seit 1983 habe ich immer wieder S8-Filmaufnahmen gedreht. Dieses Material weist nicht die Kontinuität eines Filmtagebuches auf, sondern sind Momentaufnahmen von Lebensgefühlen, die mich in der Vergangenheit prägten. Dieses Material lag bis anhin ungenützt in meinen Archiv, entstanden neben meinen grösseren, - man könnte fast sagen - offiziellen Filmen.

Nach der Fertigstellung von meinem langen Dokumentarfilm „Der Duft des Geldes“, der mich über drei Jahre lang beschäftigte, habe ich 1999 die vergangenen fünfzehn Jahre Filmarbeit seit „Spuren der Trauer“ überdacht  und suchte für mich neue Impulse und Wege. Mit der Videoarbeit „Gezeiten“, die vom „altem“ S8-Filmmaterial als Rohstoff ausgeht, suchte ich den Schnittpunkt zwischen den beiden Medien Film und Video.

Es entstand die Verlockung, dieses Material heute zu bearbeiten, es mit einem Text von heute zu versehen, und damit die alten Stimmungen mit meinem heutigen Lebensgefühl in ein produktives Spannungsverhältnis zu setzen. Als ich das alte S8-Filmmaterial betrachtete, entstand eine eigenartige Mischung zwischen vertraut und bekannt und neugierigem Blick von aussen, distanzierter, auf das eigene Material. Obwohl ich in meinem aktuellen Leben an einem anderen Punkt stehe, sind die vergangenen Zeiten der Trauer, die aus dem Material sprechen, als aktive Erinnerung präsent.

Filmische Werkstatt

Dank dem grosszügigen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums erhielt ich die Möglichkeit, ohne grosse schriftliche Projektentwicklung direkt am Schneidetisch, in permanenter Auseinandersetzung mit dem konkreten Material, den Film aus sich heraus zu gestalten. Ich ging nicht mit einem vordefinierten Konzept an die Montage, sondern das Material selber begann aus sich heraus zu „sprechen“. Das primäre Thema des kurzen Films, die Trauer und dahinter auch die tiefsitzende Angst vor dem Tod, ergab sich für mich eher „widerwillig“. Das Material hat es mir aufgezwungen. Offensichtlich - immer wenn ich sogenannt „ziellos“ filmte - kam eine innere Seite von mir zum Ausdruck, die ich in ihrer Bedeutung und Deutlichkeit erst bei der Montage 1999 erkannte.

Aufgrund eines ersten, intuitiven Roh-Bildschnitts sprach ich zum laufenden Video direkt zum ersten Mal meine Texte - quasi eine Simultan-Vertonung. Dieser erste, äusserst persönliche Text, der für mich die Grenze für die Veröffentlichung überschritt, bildete dennoch die Grundlage für die langdauerende Textarbeit. Das Biografisch-Persönliche liegt nicht zuletzt in den Texten begründet, die in einem äusseren und inneren Prozess mit verschiedensten montierten Versionen ihre entgültige Form fanden. Die Eigen-Zeit - wie man sie für das Durchleben der Trauer braucht - habe ich mir auch für den Prozess der Filmmontage genommen.

Der filmische Brief

Schon zu Beginn stellte ich mir einen persönlichen Film vor, der etwas aus meinem Innern nach Aussen trägt. Der filmische Brief ist die adäquate Form für diesen persönlichen Charakter von „Gezeiten“ - eine Art offener Brief an eine nicht näher bestimmbare Öffentlichkeit. Ich mache mich selber zum Gegenstand der Betrachtung, um an meiner Erfahrung quasi exemplarisch etwas zu erzählen, was beim Zuschauer seinerseits Gedanken und eigene Gefühle hervorbringen soll. Das Persönliche ist in diesem Film insofern spannend, als es dem Zuschauer Raum gibt, Erfahrungen von mir nachzuvollziehen und mit seinen eigenen zu verbinden - ein stiller Film letztlich, der beim Zuschauer wiederum nach Innen weist.

Aus der zeitlichen Distanz verliert der „Chronos“, die genau strukturierte Zeit der Uhr, der Termine, des stetig dahinfliessenden Ablaufes ohne Ende, an Bedeutung. Im Nachhinein entsteht vielmehr ein Gefühl von durchlebten Lebensphasen: der langen Trauer und des inneren Stillstands, aber auch des Aufbruchs, von Freude, Liebe und von Reisen in andere Länder. Der „Chronos“ verliert sich, es entsteht das Zeitgefühl der Stimmungen und Lebensabschnitte. In Tat und Wahrheit kurze Ereignisse können wie lange, grosse Momente nachschwingen; über lange Jahre gelebte Zeit kann sich verdichten oder auch verlieren zu kleinen Stimmungen.

Mitarbeiter

Kamera, Texte, Montage und Produktion
Dieter Gränicher
Musik
Martin Schütz
Sprecher
Hanspeter Müller
Tonschnitt und Mischung
Dieter Lengacher, Magnetix
Grafik
Thea Sautter
Dank an
Bettina Schmid und alle anderen Personen, die diesen Film ermöglicht haben.

Produktionsangaben

Originalversion
Betacam SP, Farbe, 4:3, Stereo, 20 Minuten
Sprache
Deutsch
Version
Englische Untertitel
Finanzielle Unterstützung
Aargauer Kuratorium, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Peter Tschudi
Produktion und Weltrechte
momenta film GmbH, Schweiz 1999