Julian und Marius
Körperlich behinderte Zwillingsbuben, die in einem Zürcher Primarschulhaus integrativ unterrichtet werden, geben Einblick in ihren Schulalltag. Wo liegen die Chancen, wo die Grenzen? Ein berührendes Porträt zweier kleiner Kämpfer.
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Inhalt
Der Erstklässler Julian weiss, was er will: weiterhin die normale Volksschule besuchen. Nach ein paar Schnuppertagen in der Sonderschule sagt er, der Unterricht dort gehe ihm zu langsam voran. Die Entschiedenheit in seiner Stimme beeindruckt. Marius, der Zwillingsbruder, möchte vor allem wegen seiner Schulfreunde in der Volksschule bleiben.
Julian und Marius sind mit einer Zerebralparese auf die Welt gekommen – einer Bewegungsstörung. Sie sind auf den Rollstuhl angewiesen und benötigen Unterstützung bei vielen Alltagsverrichtungen. Ihre Eltern lassen ihnen intensive therapeutische Förderung zukommen. Die integrative Schulung der Zwillinge ist ihnen ein wichtiges Anliegen.
In seinem neuen Dokumentarfilm begleitet Dieter Gränicher Julian und Marius und ihre Bezugspersonen über eineinhalb Jahre hinweg im Primarschulhaus «Heubeeribüel» in Zürich. Lernfreude und Momente des Frusts, Übermut und das Erahnen von Grenzen wechseln sich ab. Die zwei Buben erzählen klug, pfiffig und reflektiert, wie es ihnen in der Schule ergeht.
Können die Zwillinge schulisch mithalten? Oder drohen sie den Anschluss zu verlieren, weil sie viel mehr Hindernisse überwinden müssen als ihre Kameraden? Kommt «eine andere Seite des Lebens» auf sie zu, wie Marius einmal nachdenklich sagt? Dieter Gränichers Film zeigt ruhig und differenziert, wie anspruchsvoll der lange Weg zur Inklusion ist.
Zitate
Jetzt fängt das Schulleben an. Jetzt kommt eine andere Seite des Lebens. Die Schule ist schön.
Marius Bänziger, Erstklässler mit einer Körperbehinderung
In der Sonderschule ist alles viel langsamer als in einer normalen Schule. Und auch entspannter. Eigentlich wie ein Kindergarten. Im Heubeeribüel (Regelklasse) gefällt es mir besser. Ich komme in ein gutes Tempo.
Julian Bänziger, Erstklässler mit einer Körperbehinderung
Ich freute mich, als ich hörte, dass ich ein Kind mit einer Körperbehinderung in die Klasse integrieren kann. Das ist für mich eine spannende Herausforderung.
Astrid Baumgartner, Lehrerin
Die Kinder haben Julian einfach als jemanden wahrgenommen, der im Rollstuhl sitzt. Sie merkten aber auch, dass gewisse Sachen anders sind. Er braucht Hilfe. Das war der Ansatz, dass Julian wie die anderen Kinder wahrgenommen und nicht schubladisiert wird.
Jessica Sobotka, Lehrerin
Das schulische Umfeld in der Regelklasse ist grossartig! Ich habe das Gefühl, dass wir uns jetzt keine Gedanken machen müssen, dass sie unterfordert wären oder nicht gut gefördert würden.
Annik Bänziger, Mutter
Ich erwarte nicht, dass sie die gleiche Leistung wie die Klassenkameraden erbringen. Aber grundsätzlich habe ich bis jetzt nicht grosse Bedenken. Ich mache manchmal mit ihnen Hausaufgaben. Dabei gibt es Wellen: Manchmal kommt nicht viel und plötzlich machen sie es super gut. Über den Erwartungen. Es ist aber schwierig zu sagen, wie das zum Schluss herauskommt.
Paul Moser, Vater
Gedanken des Autors
Als ich vor sieben Jahren die Familie Bänziger Moser kennenlernte, waren die Zwillinge zwei Jahre alt. Schon damals entstand die Idee, ein langfristig angelegtes Filmprojekt zu realisieren, um die verschiedenen Entwicklungsstufen von Julian und Marius zu dokumentieren. Wir sprachen davon, die Langzeitstudie über einen möglichen Zeithorizont von zehn oder mehr Jahren anzulegen. Für die Eltern war es damals aber noch zu früh, im Zentrum eines Films zu stehen; der Schmerz darüber, dass die Zwillinge behindert auf die Welt gekommen waren, war noch zu frisch.
Als nun vor gut eineinhalb Jahren der Schuleintritt in eine Regelklasse bevorstand, tauchte erneut die alte Idee auf, jetzt allerdings mit dem klaren Fokus auf die schulische Integration. Im Juni 2014 begannen wir mit den Dreharbeiten. Nach den Sommerferien 2014 traten die Zwillinge in den Schulunterricht der Regelklasse ein. Von einigen themenspezifischen Stiftungen erhielt ich grosszügige finanzielle Unterstützung, womit das Projekt auch produktionell abgesichert war.
Die schulische Integration in eine Regelklasse steht nicht nur im Spannungsfeld der vielen Beteiligten mit ihren zum Teil verschiedenen Interessen, sondern ist auch eine Frage, die im politischen Kontext diskutiert wird. Wie in vielen anderen Ländern auch, hat man auf der politischen Bühne beschlossen, dass von einer Behinderung betroffene Kinder möglichst in eine normale Schule integriert werden sollen. Doch in der konkreten Durchführung durch die Lehrerinnen, Heilpädagoginnen, Alltagsbegleiterinnen, Schulleiter, Schulpsychologinnen und anderen mehr zeigt sich, dass diese Integration sehr anspruchsvoll ist und vielerlei Herausforderungen birgt. Im Schulalltag stehen die Lehrerinnen den ganzen Tag lang vor der Aufgabe, ihren Unterricht so zu gestalten, dass die Kinder mit einer Behinderung möglichst schulisch und sozial eingebunden sind. Dabei stösst man an Grenzen, die sich im Fall von Julian und Marius vor allem darin zeigen, dass der schulische Stoff für sie trotz ihrer Intelligenz nicht einfach zu bewältigen ist. Je älter sie werden, desto anspruchsvoller werden die Anforderungen in der Schule: Es zeichnet sich ab, dass sich eine Schere öffnet zwischen dem verlangten Wissen und Können und dem, was die Zwillinge zu erbringen imstande sind. Die Zukunft wird weisen, inwieweit Julian und Marius in der Regelklasse noch am richtigen Ort sind, oder ob die Sonderschule für Körperbehinderte nicht doch besser geeignet wäre.
Für mich persönlich überwiegen die Vorteile der schulischen Integration deutlich. Wenn ich Julian und Marius mit ihren Schulkollegen erlebe, wird mir deutlich, welch grosse Qualität in diesen Beziehungen steckt. Diese sind aber keineswegs einseitig: Die nichtbeeinträchtigten Kinder lernen von Julian und Marius, was es heisst, nicht einfach „normal“ wie sie selber zu sein. Ganz nebenbei erfahren sie, wie man mit Hilfsbedürftigkeit, Andersartigkeit und Beeinträchtigung umgeht. Eine Erfahrung und ein Wissen, das diese Kinder zeitlebens mitnehmen werden. Nur so lässt sich in unserer Gesellschaft längerfristig die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung erreichen.
Mitarbeiter
René Baumann, Dieter Gränicher
Reto Stamm
Produktionsangaben
Belinda Sallin, Rajan Autze, Urs Augstburger